Es geht damit unter anderem um die Problematik von Tradition überhaupt, die gerade bei einer nur im Augenblick ihrer Lebendigkeit
zu erlebenden Kunst neben einem bewahrenden immer auch verfälschende Momente mit sich bringt, sei es in ihrer schriftlichen oder in ihrer nur vermeintlich direkten Form des Spielens nach dem Hören.
Die Entzifferung eines Notentextes zu einer authentischen Wiedergabe bedarf zum wesentlichen Teil eines von keiner mündlichen oder schriftlichen Musikübermittlung geblendeten natürlichen
Lebensgefühls. Die eine Musikinterpretation letztlich entscheidenden Gesetze von Harmonik und Rhythmik lassen sich kaum oder nur unzulänglich auf- oder beschreiben. Sie lassen sich mit all ihrer
Relativität nur erahnen. So wenig e i n Ton die Musik macht, so wenig werden jemals sämtliche zusätzliche Zeichen auf dem Notenblatt für einen oder mehrere notierte Töne gelten. Sie
gelten vielmehr für die mithilfe dieser Töne zu Klang gebrachten emotionalen Inhalte einer Komposition. Sogenannte Spielanweisungen sind genau genommen gar keine, d. h. keine Handlungsanweisungen,
sondern eine Beschreibung dessen, was erklingt, wenn Sinn und Struktur einer Komposition durchschaut sind. Oft gelangt man als erfahrener Musiker besser zu diesem Verstehen bei Nichtbeachtung
weiterer Angaben des Komponisten und allein durch ausgiebige Erforschung der notierten Tonhöhen und Notenwerte, also des reinen Klangmaterials, gerade wenn es anfänglich länger zu dauern scheint.
Vermutlich gilt das aber nicht für modernere "antistrukturelle" Musik, die bei mir weniger
Thema werden wird.